Freitag, 10. November 2017

Wie man’s spricht



Seit 2011 bin ich nicht mehr im aktiven Schuldienst, daher nehmen die bildungspolitischen Neuerungen zu, welche mir nicht mehr oder erst nach einiger Zeit bekannt werden. In den meisten Fällen empfinde ich dies als Gnade.

So bekam ich von einer „neuen“ Methode im Deutschunterricht erst Wind, als die ersten Kultusminister wieder am Zurückrudern waren: Susanne Eisenmann (CDU), seit 2016 Chefin des baden-württembergischen Bildungsressorts, hat in einem Zeitungsartikel völlig neue Zielsetzungen erkannt:

„Nun muss gelten: strikte Orientierung auf Unterrichtsqualität. Und keine ideologische Gefälligkeit bei den Methoden.“
Überschrift: „Wir setzen auf Leistung in der Schule.“
Na prima, besser spät als nie…

Worum geht es?
Die Schüler im „Musterländle“ schnitten bei der neuesten bundesweiten Leistungserhebung in den 3. und 8. Klassen („VERA 3“ bzw. „VERA 8“) deutlich schlechter ab als bislang:
34 Prozent der Schüler verfehlten bei Rechtschreibung den Mindeststandard, also verfügten nicht einmal über ein Minimum von Kompetenzen, das sie zum Abschluss der dritten Klasse haben sollten. Knapp ein weiteres Drittel erreichte gerade den Mindeststandard.
In den 8. Klassen der Gemeinschaftsschulen sind 11 Prozent der Schüler funktionelle Analphabeten, 20 Prozent erfüllten gerade den Mindeststandard. In Mathematik sieht es nicht besser aus.
Von den üblichen Spitzenplätzen rutschte Baden-Württemberg somit ins untere Mittelfeld.

Als eine wichtige Gegenmaßnahme hat die Ministerin an den Grundschulen die Lernmethode „Schreiben nach Gehör“ abgeschafft. Entwickelt hat das Konzept „Lesen durch Schreiben” der 2009 verstorbene Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Er verfolgte den Ansatz, dass nicht das Lesen, sondern das Schreiben am Anfang stehen sollte.

Zum Schreiben Lernen wird nicht mehr die klassische Fibel verwendet, sondern eine sogenannte Anlauttabelle, mit deren Hilfe sich die Kinder die Buchstaben zu den Lauten zusammensuchen. Das Kauderwelsch, welches dabei im Schülerheft landet, wird nicht korrigiert, um die armen Kleinen nicht zu verunsichern. Es liest sich dann beispielsweise so:

"Libe Elke.wir haben Den Zoo aus Pape gmahct unt wir Haben Plastik Tire zumbeischbil Lamas wir heisluftpistole gmahct und einen kjos Die Lamas schbilen uno uno die Roben kinder sint im Wasr Die krokodile Lesen Dort Gips keine Fögel Unser Zoo hat aur file zepras Das Girfen kint schdet im Futer Napf Die kengros Ligen über Nander Von Tanja".

Übrigens hat das Ganze einen possierlichen Vorläufer:

In den 20er-Jahren sorgte ein Mann in Deutschland für Aufsehen. Und manchen zauberte er auch ein erstauntes Lächeln ins Gesicht. Er hatte langes wallendes Haar, trug manchmal nur einen Lendenschurz und zog barfuß durch die Lande und durch Berlin. Der Mann aus dem Altmark-Städtchen Arendsee war ein Naturmensch, auch „Kohlrabi-Apostel“ genannt. Er predigte den Vegetarismus und überhaupt eine naturgemäße Lebensweise.
Er hieß Gustav Nagel, nannte sich „gustaf nagel“ und hatte sogar eine eigene Partei, die „Deutsche kristliche Folkspartei“, die bei der Reichstagswahl 1924 immerhin 0,01 Prozent der Stimmen bekam. Zu seinen Forderungen gehörte eine grundlegende Rechtschreibreform: „schreibe wi du sprichst“.

Seit zirka 10 bis 15 Jahren hat sich dieser Quatsch (in der Version von Jürgen Reichen) offenbar bundesweit an den deutschen Grundschulen ausgebreitet. Noch schlimmer: Eltern wurden angehalten, die grauenhafte Orthografie ja nicht zu „verbessern“.

Inzwischen sind nun „Bildungsexperten“ tatsächlich auf einen Umstand gestoßen, den ihnen jeder Biologiestudent in höheren Semestern hätte erklären können: Durch Konditionierung prägen sich falsche Schreibweisen halt ein – und das Umlernen („Extinktion“) ist entsprechend mühsamer. An den weiterführenden Schulen landen dann „Legastheniker aus eigener Fertigung“… und spätestens beim ersten Bewerbungsschreiben schlägt das Imperium zurück: Nur wenige Rechtschreibfehler sind ein absoluter „Jobkiller“.

Aus meiner Erfahrung als Gymnasiallehrer weiß ich, wie lax dort schon in meiner Dienstzeit mit der Pflege einer korrekten Sprache umgegangen wurde. In meinem Buch „Der bitterböse Lehrer-Retter“ schrieb ich bereits 2012:

„Es ist eine dienstliche Alltagserfahrung, dass Kollegen Verstöße gegen Rechtschreibung, Interpunktion und Grammatik reihenweise unkorrigiert durchgehen lassen und Formulierungen positiv bewerten, welche von geradezu jämmerlicher Unbeholfenheit zeugen – getreu dem Motto: „ICH BEWERTE HIER BIOLOGIE UND NICHT DEUTSCH!“ Dies ist natürlich grober Unfug, da ein fachlicher Inhalt kaum ohne sprachliche Fähigkeiten adäquat dargestellt werden kann.
Daher bildet eine Bionote indirekt auch eine Leistungsbewertung im Deutschen – und so muss es auch sein!“

Schon vor über 30 Jahren hat meine Strategie, päpstlicher als viele Deutschlehrer zu sein, für elterliche „Palastrevolutionen“ gesorgt. Allen Ernstes musste ich mich hartnäckig verteidigen, wenn ich Schreibweisen wie „Rückenrad“ (für „Rückgrat“), „Greissaal“ (wohl für ältere Mütter) oder „Geiseltierchen“ (alias verbrecherische Einzeller) in die Bewertung einbezog. Heute würde mich hierfür wohl ein Disziplinarverfahren erwarten…

Immerhin hat die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), welche bei Unsinn stets für diesen noch überbietende Statements gut ist, schon protestiert: Es stehe der Bildungsministerin nicht zu, in die „pädagogische Freiheit“ der Lehrkräfte einzugreifen…

Zum Trost hat Frau Eisenmann schon angekündigt, das bisherige „Landesinstitut für Schulentwicklung“ (300 Mitarbeiter) aufzulösen und zwei neue Institutionen für Bildungsforschung und Fortbildung ins Leben zu rufen. Das dürfte die Zahl der verbeamteten Theoretiker stark erhöhen – und die brauchen wir ja dringend, um die Schulen mit neuen Konzepten zu überziehen.

Weiterhin beruhigt es uns, zu wissen, dass sich neben Baden-Württemberg erst Hamburg zur Abkehr von der Schlechtschreib-Reform entschieden hat. Nordrhein-Westfalen überlegt noch. Und in Hessen darf es selbst in der Oberstufe höchstens zwei Notenpunkte Abzug wegen der Rechtschreibung geben. Eine Eins minus ist also selbst per Anlauttabelle noch möglich!

Aber auch das Saarland blieb jüngst nicht von einem Bildungsskandal verschont. Lehrer hatten es geschafft, eine landesweite Abschlussprüfung in Mathematik mit folgender Scherzfrage zu erweitern:

"Die Klasse 8b organisiert zum Abschluss des Schuljahres ein Klassenfest. In der Klasse befinden sich insgesamt 15 Schülerinnen und Schüler. Über das Schuljahr hinweg wurden 180 Euro in der Klassenkasse gesammelt. Für das Klassenfest sollen folgende Artikel gekauft werden: Grillgut für 21,27 Euro, zwei Packungen Partybrötchen für insgesamt 9 Euro, zwei 6er Pack Wasser für zusammen 9,98 Euro, 1 Kiste Limonade mit 24 x 0,50 L-Flaschen für 38,36 Euro, eine Mix-Box Schokoriegel für 34,99 Euro, zwei Packungen mit je 90 Fruchtgummis für zusammen 17,98 Euro, fünf Tüten Knabberartikel für insgesamt 9,55 Euro.

Wie viele Indianer mit knallrotem Gummiboot saßen im Kühlschrank?"

Nach großem Geheul (wegen Verunsicherung der Kandidaten etc.) kroch das Bildungsministerium natürlich zu Kreuze.

Meine ketzerische Ansicht dazu:
Hätten führende Kulturbeamte in ihrer Schulbildung solche Testfragen bestehen müssen, wäre ihnen zumindest eine Kompetenz nicht entgangen:

Hanebüchenen Blödsinn sofort zu erkennen!

P.S. Einen Artikel von mir zu einem ähnlichen Thema finden Sie hier:
https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.de/2017/04/anibal-triole.html

Dienstag, 26. September 2017

Dumm gelaufen



„Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen. Wenn wir irgendetwas beim Nationalsozialismus anerkennen, dann ist es die Tatsache, dass ihm zum ersten Mal in der Politik die restlose Mobilisierung der menschlichen Dummheit gelungen ist."
(Kurt Schumacher am 23.2.1933 im Reichstag an die Adresse von Joseph Goebbels)

Über den Wahlerfolg der AfD ist in den letzten zwei Tagen sehr viel geschrieben worden. Warum nun auch noch ein Artikel von mir? Vielleicht kann ich mir als unabhängiger Blogger, der weder gewählt werden will noch um seine feste Stelle in den Medien fürchten muss, die Betonung eines kaum angesprochenen Aspekts leisten:

Der Triumph einer solchen „Protestpartei“ ist zuvörderst auch ein Sieg der Dummheit.

Gewiss, unser Wahlrecht ist nicht an einen Mindest-Intelligenzquotienten oder das Bestehen eines Grundwissenstests in politischer Bildung gebunden. Und das ist auch gut so. Jeder darf bei uns seine Meinung sagen – auch wenn sie total bescheuert und ungetrübt ist von jeglicher sachlichen Information.

Das Internet – und das zeigt sich ja schon bei „harmlosen“ Themen wie dem Tango – hat diesen Prozess erheblich forciert: Haufenweise gibt es in den sozialen Netzwerken Äußerungen, in welchen keine drei Wörter hintereinander richtig geschrieben sind und deren intellektueller Gehalt durchaus mit dem Oberschlundganglion eines Regenwurms zu bestreiten wäre.

Kritisiert man das oder übt sich gar in Ironie, so kriegt man den Prekariats-Spruch vom „Oberlehrer“ um die Ohren. In seinem Text „Heimat“ (1929) sagte allerdings bereits Altmeister Kurt Tucholsky: „Wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel.“

Und ebenso, wie diese das Recht haben, ihre Sprüche von „Volksverrätern“ und „Lügenpresse“ zu blöken, dürfen wir anderen dazu feststellen: Das ist schlicht entsetzlich dumm.

Populisten halten von der Intelligenz der Masse nicht eben viel:

„Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergesslichkeit groß. Aus diesen Tatsachen heraus hat sich jede wirkungsvolle Propaganda auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu verwenden, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag. Sowie man diesen Grundsatz opfert und vielseitig werden will, wird man die Wirkung zum Zerflattern bringen, da die Menge den gebotenen Stoff weder zu verdauen noch zu behalten vermag."
(Adolf Hitler: „Mein Kampf“)

Mehr Sozialkundeunterricht könnte helfen. Und mich interessiert dabei die neueste heilige Kuh, welche man durchs Bildungssystem treibt – Digitalisierung genannt – kein bisschen. Erziehen können am besten richtige Menschen, solche, die selbstbewusst Standpunkte vertreten und daher junge Menschen begeistern. Wer dann einmal kapiert hat, wie kompliziert unser politisches System ist , weil es sich auf verschiedenste Interessen und Zuständigkeiten einstellen, Pluralität gewähren muss, wäre nicht mehr so anfällig für Primitiv-Formeln.

Wie wird der Bundestag gewählt, wie entsteht ein Gesetz, welche Angelegenheiten sind Ländersache oder fallen unter kommunale Zuständigkeiten? Welche Aufgaben hat ein Stadt- oder Gemeinderat? Was sagt unser Grundgesetz über das Asylrecht, und wieso kann es dabei keine „Obergrenze“ geben? Welche internationalen Verpflichtungen wie die UN-Flüchtlingskonvention gibt es? Bei Beschäftigung mit solchen Themen würde vielleicht auch bei hartgesottenen Naturen das bislang ungeübte Gehirn die Herrschaft über das Rückenmark erringen.

Katastrophenszenarien gehören zum festen Repertoire. Stammt die nachfolgende Rede von der AfD oder doch einer anderen Partei? Am Ende dieses Artikels können Sie es lesen:

„Wenn die SPD in Deutschland in diesen Wochen ein wüstes Geschrei gegen die Regierung (…) erhebt, dann ist doch das der Nachweis dafür, dass sie Angst besitzen, die Diskussion könne sich auf die letzten dreizehn Jahre erstrecken. Sie wissen genau: diese dreizehn Jahre zahlen sie.
Denn ist je ein Volk so erbärmlich regiert worden wie wir diese dreizehn Jahre? Hat man jemals in einer so kurzen Spanne Zeit so viel verwirtschaftet, verludert und verschachert?
Hundert Jahre deutscher Fleiß, deutscher Arbeitsamkeit, deutscher Sparsamkeit haben kaum das schaffen können, was dreizehn Jahre Luderwirtschaft restlos verwirtschaftet haben.
Das ist die Schuld des schwarz-roten Regiments. Es hat die Krisen hervorgerufen, aus der die Weltwirtschaftskrise erst entstanden ist.“

Das ist jedoch nur ein Zwischenschritt: Schuld haben letztlich alle anderen Parteien, das „System“ insgesamt – ob CDU oder Linke, da ist man nicht kleinlich. Und zum Schluss mündet dies in die Conclusio: jagen, aufräumen, ausmisten, weg damit! Das Parlament als „Quasselbude“ (Nazi-Jargon) ist da nur eine Übergangslösung.

Damit wir uns nicht missverstehen: Auch die Nationalsozialisten haben durchaus real existierende Probleme angesprochen: Reparationszahlungen, Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und einiges mehr. Die Frage ist, wie man mit ihnen umgeht. Und es gab auch damals viele Anhänger, die von einem „nationalen Sozialismus“ träumten. Gregor Strasser und Ernst Röhm waren dafür Beispiele – allerdings nur bis 1934, als sie von den eigenen Leuten exekutiert wurden. Rechtzeitige Rückzüge wie der von Frauke Petry sind also durchaus empfehlenswert…

Den sogenannten „etablierten Parteien“ ist sicherlich oft vorzuwerfen, dass sie die „Nöte des kleines Mannes“ nicht ernst nehmen, die einfachen Menschen nicht genug in ihre Entscheidungen einbeziehen. Niedriger Bildungsstand darf kein Ausschlusskriterium bei der politischen Willensbildung sein. Eine besondere Qualifikation dafür ist er aber noch viel weniger.

Man muss also jeden und jede ernst nehmen. Jeden Quatsch hingegen nicht.
Und das darf man dann auch laut und deutlich sagen…

P.S. Die obige Rede stammt von Adolf Hitler (NSDAP-Versammlung in Kiel am 20.7.1932).
http://www.kurt-bauer-geschichte.at/PDF_Lehrveranstaltung%202008_2009/10_Hitler-Wahlreden_1932.pdf

Mittwoch, 23. August 2017

So ein guter Junge



„Der ehemalige Schuldirektor (…) sagte aus, dass das gutartige Kind während der Schulzeit niemals auf Spatzen und deutsche Schriftsteller geschossen habe.“
(Kurt Tucholsky: Prozess Harden, 1922)

Hier meine Übersetzung des Briefs eines Vaters an den Richter, vor dem sein Sohn steht:

Euer Ehren Richter Aaron Persky,

ich schreibe diesen Brief, um Ihnen von meinem Sohn Brock, von der Person, wie er nach meinem Wissen wirklich ist, zu erzählen. Lassen Sie mich zunächst sagen, dass Brock absolut zerstört von den Ereignissen des 17. und 18. Januars ist. Er würde alles tun, um die Uhr zurückzudrehen und diese Nacht noch einmal anders ablaufen zu lassen.

Nach vielen Vier-Augen-Gesprächen, die ich mit Brock seit diesem Tag hatte, kann ich Ihnen berichten, dass ihm das Geschehene in dieser Nacht wirklich leid tut, und all der Schmerz und das Leid, das er für diejenigen verursacht hat, die darin verwickelt und dadurch beeinträchtigt waren. Er hat seine wahrhafte Reue für seine Taten in dieser Nacht zum Ausdruck gebracht. Nachdem wir seit diesem Vorfall mit Brock unter einem Dach leben, kann ich Ihnen aus erster Hand den vernichtenden Eindruck schildern, welches dies auf meinen Sohn hatte. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich Ihnen gerne einige Erinnerungen an meinen Sohn darlegen, welche die Qualität seines Charakters zeigen.      

Brock hat eine gutmütige Persönlichkeit, die ihn bei fast jedem, den er trifft, beliebt macht. Er war stets eine Person, welche die Leute, ob Männer oder Frauen, gerne um sich haben – und dies von seiner Vorschulzeit bis heute. Ich habe nie erlebt, dass Brock seine Stimme gegen irgendjemand erhoben hätte – und er hat gegen niemanden Vorurteile. Er nimmt die Menschen so, wie sie sind – nicht mehr und nicht weniger. Er hat eine sehr sanfte und ruhige Natur und ein Lächeln, das wirklich anziehend für seine Umgebung ist. Kein einziges Mal hörte ich ihn über irgendeine seiner Leistungen prahlen oder sich rühmen. Er ist schlicht ein sehr bescheidener Mensch, der lieber von den Fertigkeiten anderer hört als über seine eigenen zu sprechen. Brock hat eine innere Kraft und Stärke jenseits all dessen, was ich je gesehen habe. Dies wurde zweifellos durch die vielen Jahre der Schwimmwettkämpfe ausgebaut und war der Hauptgrund dafür, dass er fähig war, die letzten 15 Monate zu bewältigen.

Brock war stets ein äußerst engagierter Mensch, ob es nun Wissenschaft, Sport oder die Entwicklung und Festigung von Bindungen und Freundschaften waren. Brocks Begeisterung für Bildung begann schon in der Grundschule. Meine schönste Erinnerung betrifft meine Mithilfe, Brock für den wöchentlichen Buchstabiertest vorzubereiten. Bei diesen Tests gut abzuschneiden war sehr wichtig für Brock, und er pflegte sich am Tag vorher vorzubereiten, indem er die Wörter auswendig lernte und sich zu vergewissern, dass er alles im Kopf beisammen hatte. Ich musste ihn immer wieder abfragen, nur so war er sicher, beim Test gut abzuschneiden.

Als wir immer am Freitagmorgen zur Schule fuhren, sollte ich ihn zur endgültigen Vorbereitung nochmals prüfen. Ich kann Ihnen versichern, dass Brock bei diesen Prüfungen immer gut abschnitt. Obwohl dieses Beispiel trivial erscheinen mag, war es doch ein frühes Anzeichen für die Wichtigkeit, die er der Schulbildung zumaß. Als er älter wurde und in der Schule weiterkam, benötigte er meine Mitwirkung immer weniger, da er begabt darin ist, sehr komplizierte Zusammenhänge zu begreifen. Diese natürliche Gabe, gepaart mit einer sehr starken Arbeitsethik, führte zu akademischen Erfolgen auf allen Ebenen.  

Brock war gleichermaßen talentiert im Sport und nahm am Baseball, Basketball und Schwimmen teil. Ich war lange während der Grundschulzeit sein Baseball- und Basketball-Trainer und häuslicher Betreuer. Ich war so stolz, als sein Coach mitzumachen und zu helfen, da ich so mehr Zeit mit ihm verbringen konnte. Auch war ich bei vielen Schulausflügen ein Eltern-Begleiter und oft der einzige Vater bei diesen Exkursionen. Selber liebte ich jede Minute davon, weil es ein Vergnügen war, Brock um mich zu haben. Er behandelte stets die anderen Kinder, Eltern und Lehrer mit Respekt. Ich werde die Erinnerung an diese Jahre für immer in meinem Herzen bewahren.

Ende des Sommers vor Brocks letztem Jahr an der High School bewarb er sich an der Stanford Universität mit dem Traum, sowohl seine akademischen wie sportlichen Talente auf ein neues Niveau zu heben. Brock hatte eine Menge Angebote von vielen Trainern der ersten Liga wegen seiner Erfolge im Schwimmen und seinen hervorragenden Schulnoten.

Viele College-Trainer hatten Interesse an Brock wegen seiner gesamten Arbeit, die er repräsentierte. Dennoch war Stanford stets seine erste Wahl und der ultimative Preis für jemanden, der so lange hart gearbeitet hatte. Er besuchte diese Universität im Sommer 2011 erstmals mit mir zwischen den ersten beiden Jahren an der High School. Brock war dort, um am ersten nationalen Schwimmwettkampf teilzunehmen (USA Junior Nationals). Wir waren beide beeindruckt vom Campus, den Schwimmeinrichtungen und der reichen Geschichte, welche diese Universität repräsentiert. Ich erinnere mich, Brock gegenüber damals geäußert zu haben, dies wäre doch ein großartiger Platz, zur Schule zu gehen. Es waren die Schwimmer, die Stanford besucht hatten.

Dieser erste Eindruck von Stanford hinterließ einen bleibenden Eindruck auf Brock. Unsere Familie war voller Stolz und Freude, als wir Ende 2013 erfuhren, dass Brock von Stanford eine Zusage erhalten hatte. Das war für ihn ein herausragendes Ereignis, da wir wussten, wie viel er gearbeitet hatte, um diesen Punkt zu erreichen. Was uns am stolzesten machte, war die Tatsache, dass Brock für das wissenschaftliche Studium zugelassen wurde, bevor wegen seiner sportlichen Ausbildung entschieden werden konnte. Dies war besonders bedeutsam angesichts der Rate von 4 Prozent Zusagen in diesem Jahr.

Brock erhielt ein 60-prozentiges Stipendium für seine Schwimmausbildung. Sogar bei einem derart großzügigen Angebot wussten meine Frau und ich, dass es für unsere Familie eine finanzielle Anstrengung werden würde, Brock in Stanford studieren zu lassen, aber wir waren entschlossen, es hinzubekommen, da wir den Wert einer Ausbildung in Stanford kannten. Als Brocks letztes Jahr an der High School zu Ende ging, war er bezeichnenderweise bescheiden, was seine Zulassung in Stanford betraf, und arbeitete bis zur letzten Minute hart im wissenschaftlichen Bereich und beim Schwimmen.

Als Carleen und ich Brock im September 2014 nach Stanford brachten, um sein erstes Studienjahr zu beginnen, fühlten wir beide, dass er umfassend auf diese Erfahrung vorbereitet war. Er hatte an vielen nationalen Lehrgängen und Wettkämpfen im Schwimmen teilgenommen und kam damit zurecht, weg von Zuhause zu wohnen. Wir waren sehr aufgeregt, als Brock sich in Stanford für das erste Vierteljahr als brandneuer Athletikstudent niederließ. Er zeichnete sich in der Schule aus, da er im Schwimmteam den besten Notendurchschnitt aller Erstsemester erreichte.

Was wir nicht erkannten, war das Ausmaß des Kampfes, den Brock so weit von daheim führte. Brock arbeitete hart, um den harten Ansprüchen von Schule und Schwimmen zu genügen. Als er in den Weihnachtsferien zu Hause war, brach er zusammen und erzählte uns, wie sehr er darum kämpfte, sozial akzeptiert zu werden und dass er nicht gerne so weit von zu Hause weg war. Er war nahezu aufgelöst, da er wusste, dass er bald aus den Weihnachtsferien zu einem Schwimm-Trainingslager musste.

Wir überlegten sogar, ob es richtig wäre, ihn ins Wintersemester nach Standford zurückzuschicken. Im Rückblick ist es klar, dass Brock sich verzweifelt bemühte, sich in Stanford einzufügen, und er in die Kultur von Alkoholkonsum und Partys geriet. Diese wurde maßgeblich beeinflusst durch viele ältere Studenten im Schwimmteam und spielte eine Rolle bei den Ereignissen des 17. und 18. Januar 2015.

Wenn wir auf Brocks kurze Erfahrung in Stanford zurückblicken, glaube ich ehrlich gesagt nicht, dass sie ihm guttat. Er war zwar akademisch und sportlich vorbereitet, aber es war schlicht zu weit weg von daheim für jemand, der im Mittleren Westen geboren und aufgewachsen ist. Er brauchte die Nähe von Familie und Freunden als Unterstützung.

Wie es jetzt steht, hat sich Brocks Leben durch die Ereignisse des 17. und 18. Januar tiefgreifend und für immer geändert. Er wird nie wieder dieses sorglose Selbst mit seiner gutmütigen Persönlichkeit und diesem einladenden Lächeln haben. Jede wache Minute ist für ihn erfüllt mit Sorge, Angst, Furcht und Depression. Man kann es an seinem Gesicht sehen, in der Art, wie er geht, seiner schwachen Stimme und seinem Appetitmangel. Brock liebte immer bestimmte Gerichte und ist selbst ein guter Koch. Ich war immer darum bemüht, ihm ein großes Ribeye Steak zum Grillen oder seinen Lieblingsimbiss zu besorgen. Ich musste stets meine Lieblings-Brezeln oder Chips verstecken, da ich wusste, sie würden nicht lange herumliegen, wenn Brock nach einem langen Schwimmtraining heimkam. Jetzt isst er kaum irgendetwas und das nur, um zu existieren.  

Diese Verurteilungen haben ihn und unsere Familie in vieler Hinsicht erschüttert und zerbrochen. Sein Leben wird nie das sein, von dem er geträumt und für das er so hart gearbeitet hat. Das ist ein gesalzener Preis für 20 Minuten Action in seinem mehr als zwanzigjährigen Leben. Die Tatsache, dass er nun für den Rest seines Lebens als Sexualtäter registriert ist, ändert für immer, wo er leben, hinkommen und arbeiten, wie er mit Menschen und Organisationen zusammenwirken kann.

Ich weiß als Vater, dass Einsperren nicht die passende Strafe für Brock ist. Er hat keine kriminelle Vergangenheit und war nie gewalttätig zu irgendjemand, einschließlich seiner Taten in der Nacht vom 17. zum 18. Januar 2015. Er kann so viele positive Dinge für die Gesellschaft beitragen und ist völlig damit beschäftigt, andere Studenten im College-Alter über die Gefahren von Alkoholkonsum und Promiskuität aufzuklären.

Wenn Menschen wie Brock andere auf den auf den Colleges unterrichten, dann kann die Gesellschaft damit beginnen, den Teufelskreis von Komasaufen und seinen unglückseligen Folgen zu durchbrechen. Bewährung ist in dieser Situation die beste Antwort für Brock und erlaubt es ihm, der Gemeinschaft netto und in positiver Weise etwas zurückzugeben.

Mit respektvoller Hochachtung
Dan A. Turner

Die Tatsachen:

Der damals 19-jährige Brock Turner hatte auf der Party einer Studentenverbindung eine junge Frau kennengelernt. Als diese stark betrunken und bewusstlos war, vergewaltigte er sie. Auch der Täter war alkoholisiert. Er wurde von zwei anderen Studenten in flagranti ertappt und der Polizei übergeben.
Er behauptete zunächst, die Frau nicht zu kennen. Später war seine Version, sie sei mit dem Sex einverstanden gewesen.
Vor Gericht wurde Brock Turner schuldig gesprochen. Der Staatsanwalt forderte 6 Jahre Haft. Der Richter, selbst ein ehemaliger Absolvent der Stanford University, verurteilte ihn lediglich zu 6 Monaten Gefängnis mit der Aussicht auf Bewährung nach der Hälfte der Haftdauer. Von der Universität wurde er ausgeschlossen.
Der Prozess erregte in den USA großes Aufsehen. In einer Online-Petition forderten 800000 Unterzeichner die Absetzung des Richters.

Mein Kommentar:

Der obige Brief des Vaters von Turner hatte also durchaus Erfolg. Für mich ist er einer der gruseligsten Texte, die ich je gelesen habe. Er beschreibt, wie man solche Menschen züchtet: Von klein auf musste der Sohn verstiegenste Erwartungen von Papi erfüllen und hatte keine Chance auf seine eigenverantwortliche Entwicklung. Als die „Fernsteuerung“ dann für ein paar Monate aussetzte, kam es zur Katastrophe. Herr Turner senior wurde für sein Schreiben öffentlich stark angegriffen. Er entschuldigte sich mit einem typisch männlichen Argument: Man habe ihn missverstanden…

Die Partys der Studentenverbindungen werden inzwischen auch von diesen selbst als Problem erkannt: Man kommt dort auch unter der legalen Grenze von 21 Jahren an Alkohol. Jede fünfte Studentin gibt an, an der Uni schon einmal sexuelle Gewalt erfahren zu haben.

Vom Opfer ist in dem Brief des Vaters nicht direkt die Rede. Vor Gericht las die junge Frau ein Schreiben an den Täter vor, das es auch in deutscher Übersetzung gibt (siehe Quellen). Unter anderem heißt es da:

„Ich wurde malträtiert mit komponierten, gezielten Fragen, die mein Privatleben sezierten; Liebe, Leben, Vergangenheit, Familienleben, dumme Fragen, die triviale Details aus meinem Leben aufwarfen, um eine Entschuldigung für diesen Typen zu finden, der mich halbnackt ausgezogen hatte, bevor er sich für meinen Namen interessierte. Nach einem körperlichen Missbrauch wurde ich mit Fragen missbraucht, die designt waren, um mich zu attackieren, um zu sagen, seht, ihre Fakten stimmen nicht überein, sie spinnt, sie ist praktisch eine Alkoholikerin, sie wollte vielleicht abgeschleppt werden, er ist ein Athlet, richtig, sie waren beide betrunken, was auch immer, das Spital-Zeug, an das sie sich erinnert, ist nach dem Vorfall, warum sollte man es in Betracht ziehen, für Brock steht viel auf dem Spiel, es ist für ihn eine richtig schwere Zeit. (…)

Und zu guter Letzt, an alle Mädchen überall, ich bin an eurer Seite. In den Nächten, wenn ihr euch alleine fühlt, bin ich mit euch. Wenn die Leute an euch zweifeln oder euch zurückweisen, bin ich mit euch. Ich habe jeden Tag gekämpft für euch und ich werde nie aufhören für euch zu kämpfen, ich glaube euch. Wie die Autorin Anne Lamott einmal geschrieben hat: «Leuchttürme rennen nicht über die ganze Insel, um nach Booten Ausschau zu halten, die es zu retten gilt. Sie stehen einfach da und leuchten.»

Obwohl ich nicht jedes Boot retten kann, hoffe ich, dass ich euch ein bisschen Licht spenden kann, indem ich jetzt hier spreche. Ein kleines Zeichen, damit ihr wisst, dass man euch nicht zum Schweigen bringen kann, eine kleine Befriedigung, dass etwas Gerechtigkeit geschehen ist und ein klein wenig Sicherheit, dass wir ein Schrittchen vorwärtskommen. Und das große, wirklich große Signal, dass ihr wichtig seid, nicht in Frage gestellt werden dürft, dass ihr unberührbar seid, dass ihr schön seid, dass ihr zu wertschätzen und zu respektieren seid und zwar vollkommen und jede Minute des Tages. Ihr seid kraftvoll und niemand kann euch das wegnehmen.

An all die Mädchen überall: Ich bin mit euch. Vielen Dank.“

Quellen:
http://www.watson.ch/International/watson-Leser%20empfehlen/857792001-%C2%ABDu-kennst-mich-nicht--aber-du-warst-in-mir-drin%C2%BB-%E2%80%93-Ein-Lesebefehl-f%C3%BCr-alle-jungen-M%C3%A4nner