Montag, 1. August 2016

Vom Ritt auf der Salami



Wenn du merkst, dass du auf einem toten Schwein reitest, steig ab.“
(Gerhard Riedl: „Der bitterböse Lehrer-Retter“)

Zu Beginn der Sommerferien (ein gut gewählter Termin für brisante Bildungsnachrichten) ist es in Bayern wohl amtlich: Die Gymnasien dürfen, so sie es wollen, ab 2018 wieder zur neunjährigen Form (G 9) zurückkehren – oder bei hinreichender Schulgröße beide Varianten (also G 8 und G 9) nebeneinander anbieten.

Dies ist wohl das vorläufige Ende eines unauffälligen Rückzugs, seitdem man den Fünftklässlern 2004 während des laufenden Schuljahrs mitgeteilt hatte, sie befänden sich nunmehr im G 8.

Die Qualität dieses bildungspolitischen Amoklaufs war damals allen Fachleuten (ausgenommen also Ministerpräsident, Kultusministerin, Kabinett und Abgeordneten der Regierungspartei) klar. Selbst mit Nachmittagsunterricht sowie der x-ten „Entrümpelung“ der Lehrpläne konnte man den Verlust eines ganzen Schuljahres selbstredend nicht ausgleichen. Prompt fielen beim ersten G 8-Abitur auch doppelt so viele Kandidaten durch wie vorher – trotz heftigster Einflussnahme des Kultusministeriums auf die Benotung.

Nachdem die beiden damaligen Haupt-Entscheidungsträger in die Europapolitik entsorgt worden waren, begann die millimeterweise salamitaktische Abkehr der nunmehr Verantwortlichen mit semantischem Gedudel wie „Pilotprojekt Mittelstufe Plus“ – mit eindeutigem Ergebnis: An den 47 teilnehmenden Gymnasien entschieden sich zwei Drittel der Schüler für das verkappte G 9.

2011 führte ich noch einen Leistungskurs zum letzten G 9-Abitur und ging dann selber in den vorzeitigen Ruhestand. In meinem 2012 erschienenen Buch „Der bitterböse Lehrer-Retter“ gab ich zu dem Thema Folgendes – hier leicht gekürzt – zu  Protokoll:

Von der Bildung zur Ausbildung: das G 8

Definition: Das achtjährige Gymnasium ist der Versuch, den Stein der Weisen durch das Vertrocknen von weißer Salbe herzustellen.

Vorher gefragt hat unser damaliger Ministerpräsident wohl nicht mal die Chefin des Kultusressorts, geschweige denn uns Lehrer – stattdessen wurde diese „Bonsai-Schulform“ autokratisch (sozusagen zwischen zwei „Ähs“) dekretiert. Freilich fehlte die einschlägige Werbung nicht: Trotz zugegebener Sparzwänge werde das amputierte Gymnasium durch den Abwurf von einigem toten Wissensballast viel leistungsfähiger, effektiver und erfolgreicher. Mit dem Rückenwind des Trends zur
Ganztagsschule schürte man die Erwartung, den somit fehlenden Stoff eines ganzen Jahres dann eben via Nachmittagsunterricht sowie „Intensivierungsstunden“ (eine Art kostenloser Nachhilfe) in die Schüler zu stopfen und deren Anwesenheit somit Eltern, Jugendtrainern und Musikschullehrern bis zum Einbruch der Dämmerung zu ersparen. Auch das bisherige Kollegstufensystem planierte man reformtauglich über den Ersatz der ehemaligen Leistungskurse durch zwei „Seminarfächer“, in
denen die früheren Inhalte weitgehend durch geschmeidige Formen wie Präsentationen, Portfolios, Gruppenreferate, Wissenschafts-Mimikry und das Üben von Bewerbungsschreiben ersetzt wurden.

Kurz vor dem jeweiligen Schuljahresbeginn erschienen mit heißer Nadel zusammengeklöppelte neue Lehrpläne, in denen Wichtiges gestrichen war, um ein Minimum zu retten (und die teilweise in einer weiteren Kürzungsaktion nochmals „entschärft“ werden mussten). Doch einen „Niveauverlust“, so das gebetsmühlenartig wiederholte Mantra, werde es nicht geben… Vielleicht hätte man den Verantwortlichen einmal erklären sollen, dass es sich bei „Niveau“ nicht um eine Gesichtscreme handelt…

Die wenigsten Insider waren überrascht, dass natürlich genau dieser Verlust
eingetreten ist: Das (bereits vorher nicht atemberaubend hohe) Wissenslevel ist deutlich abgesunken – gerade für mich als Naturwissenschaftler angesichts der rasanten Fortschritte in diesem Bereich einfach skandalös! Wenn ich einmal vergleiche, was ich im Studium beispielsweise in Genetik oder Biochemie lernte und wie viel bis heute dazugekommen ist, müsste man eher über die Verlängerung des Gymnasiums auf zehn Jahre ernsthaft diskutieren.

Übrigens kenne ich bisher kaum einen Kollegen, welcher aus „Verantwortung fürs Ganze“ auf die früher verlangten Inhalte völlig verzichtete – mit der Folge, dass die Schüler in kürzerer Zeit relativ mehr Stoff „hineingedrückt“ bekommen!

Und die Reaktionen von Beteiligten und Öffentlichkeit? Pflichtgemäße Proteste von Eltern- und Lehrerverbänden, bald aber schon abgelöst durch Statements in Richtung „Wir müssen die neue Herausforderung annehmen“. Am hartnäckigsten blieben noch die betroffenen Familien, in denen Elfjährige nun zur gleichen Uhrzeit von der Arbeit nach Hause kamen wie ihre berufstätigen Väter (die allerdings dann nicht noch Hausaufgaben machen mussten…). Ebenfalls bis heute sauer sind Vereine, Jugendorchester und ähnliche Einrichtungen, bei denen die Schüler früher ihre nun nicht mehr vorhandene Freizeit verbrachten.

Ein Volksbegehren scheiterte (im Unterschied zur anscheinend viel existenzielleren Frage des totalen Rauchverbots) schon in der Anlaufphase. Offenbar überwog die (nie offen ausgesprochene) Erwartung, ein äußerst erstrebenswertes Papier, nämlich das Abiturzeugnis, in Zukunft „billiger“ zu kriegen… Und die Kollegen? Nach etlichem Aufbegehren (und wohl noch mehr „innerer Emigration“) tun sie das, wofür sie als Teil der Exekutive bezahlt werden: Sie führen das Vorgeschriebene aus.

Wie ich allerdings schon 2004 in einer Glosse festgestellt habe, können wir Lehrer uns von einer Mitschuld an dieser Entwicklung nicht freisprechen: „War uns eigentlich irgendein Anlass zu nichtig, Unterrichtszeit entfallen zu lassen? Keine Vertretung in Randstunden und ab der 11. Klasse, flächendeckende Spekulatiusorgien zu Weihnachten, Eiersuche vor Ostern, unterrichtsfrei wegen Abistreich! Dazu noch einwöchige Freizeitgestaltung vor Schuljahresende, welches für den 13. Jahrgang um Monate vorverlegt wurde – eigentlich immer noch wegen der Einberufungstermine anno 1970 mit eineinhalb Jahren Soldatenzeit (und 21 Monaten Zivildienst) oder eher wegen der Abi-Besäufnistour an den Ballermann? Musste das nicht die Begehrlichkeit sparwütiger Politiker wecken, die angesichts der Ebbe in den Kassen händeringend nach Staatsbetrieben fahndeten, in denen bei relativ viel Gaudi verhältnismäßig wenig herauszukommen schien, was sich zum Glück nicht mal in Tonnen oder Stückzahlen pro Arbeitstag festmachen lässt?“

Vollends zum Treppenwitz wird das Argument, man müsse die „überlangen Ausbildungszeiten“ verringern, jetzt durch den Wegfall des Wehrdienstes. Nun gut, wie schon in anderen europäischen Ländern mit Bonsai-Gymnasien, werden die Universitäten diese Lücke ausfüllen müssen, um per „Vorsemester“ die Studienanfänger auf das einstige Niveau zu hieven. Selbst wenn hierdurch kein verschultes Paukstudium entstünde und die Qualität der früheren Abschlüsse erhalten bliebe (aus meiner Sicht Konjunktive), ändert sich dennoch ein zentraler Punkt: Die Spezialisierung setzt früher ein, die Breite der Allgemeinbildung nimmt ab; unverzichtbar ist vornehmlich das, was die späteren Arbeitgeber brauchen: beispielsweise Physiker – ob die nun Dürrenmatts „Physiker“ gelesen haben oder nicht… Die Ausbildung bewirkt so ein Aus für die Bildung – und die stirbt, wie die Freiheit, nicht auf einmal, sondern millimeterweise.

Ich habe damals erleben dürfen, wie mein einstiger Chef zwar im ersten Affekt bei „Anti-G 8-Demonstrationen“ mitlief, Wochen danach jedoch bei einer Schulfeier bereits eine Anpassungsrede à la „Wir müssen die Herausforderung annehmen“ hielt. Den letzten G 9-Abiturienten beschied er, sie bekämen auf diese Weise „das Stigma eines Auslaufmodells angehängt“, während er den ersten G 8-Absolventen attestierte: „Sie waren schneller und besser“.

Das Statement der bayerischen Direktorenvereinigung zur jetzigen Wende spricht Bände: „Was wir befürchtet haben, ist eingetreten.“ Na gut, sie werden sich alsbald wieder anpassen…

War die Umsetzung des galoppierenden Wahnsinns an den bayerischen Gymnasien vor zwölf Jahren unvermeidlich? Ich bin heute noch fest davon überzeugt: Hätten vor allem die leitenden Herrschaften an den Schulen über Hintern in der Hose verfügt, wäre das G 8 längst wieder Geschichte – mit ähnlicher Halbwertszeit wie gewisse Ministerpräsidenten zur damaligen Zeit.

So hat man aber das Meisterstück hingekriegt, von 2004 bis 2018 eine halbe Schülergeneration um ihre Bildungschancen (sowie eine förderliche Freizeitgestaltung) betrogen zu haben – und das nur, weil sich so viele Herrschaften nicht in der Lage sahen, etwas, was aussieht und riecht wie Scheiße, auch so zu bezeichnen!

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